2. Leseprobe



Unser Ziel muss es sein, zunächst die Verständigung mit den anderen intelligenten Spezies auf unserem Planeten voranzutreiben. Wenn wir nicht einmal die Sprache der großen Tümmler verstehen, wie sollen wir dann eine extraterrestrische Botschaft erkennen? (Aus dem Vorwort zum Jahresbericht 2038 der ESA)

»Nein Susi, du hast jetzt genug. Sei nicht so verfressen.«
Susi sah das anders. Wieder und wieder drückte sie mit ihrer Schnauze das Symbol auf dem Touchscreen. Doch der Futterautomat wollte einfach keine Fische mehr ausspucken. Die neunjährige Delfindame hatte den Inhalt vollständig ausgeräubert.
   »Hi Séverine, wie läuft es denn so?« 
   Die junge Meeresbiologin, die mit im Wasser baumelnden Beinen an dem riesigen Becken saß, zuckte zusammen, so vertieft war sie in die Arbeit mit ihrem Schützling gewesen. Fast wäre sie wieder hineingerutscht. Hinter ihr stand Marc Laurent, der geschäftsführende Direktor des Ozeanographischen Instituts der Universität Marseille. 
   »Ich hatte es letzte Woche ja schon während unseres Freitagsmeetings erwähnt. Wir benötigen dringend einen Zwischenbericht. Im September läuft dein Vertrag aus, es ist höchste Zeit für die Verlängerung. Mit guten Argumenten können wir nochmal ein Jahr rausschlagen.«
   Betroffen schaute Séverine Legrand zu ihrem Chef auf. »Marc, wir haben schon Juli. Und ich komme einfach nicht weiter. Manchmal denke ich, die Sache mit meiner Doktorarbeit war eine blöde Idee. Vielleicht sollte ich mir besser eine Stelle in der Pharmaindustrie suchen. Du weißt schon, der Trend zu Nanobots, die Suche nach dem ewigen Leben. Da ist richtig viel Geld zu holen.« Gedankenverloren tätschelte Séverine Susis Schnauze. Der Delfin quiekte vor Wonne. »Ich komme einfach nicht über eine Shannon-Entropie von 5 hinaus. Das haben meine Vorgänger auch schon geschafft.«
   »Shannon-Entropie, was bedeutet das denn?«
   Hinter Marc stand plötzlich eine attraktive Mittdreißigerin in Shorts. »Susanne Bronski.« Dabei strich sie sich die roten Haare aus der Stirn. »Sie müssen Herr Laurent sein. Wir haben einen Termin. Ich würde gerne mit Ihnen und ihrer Mitarbeiterin ein Interview über die Arbeit an Meeressäugern machen. Entschuldigen Sie bitte, ich bin hier so einfach eingedrungen. Aber das Tor vorne stand offen und es war niemand am Empfang.«
   Mist, den Termin hatte er völlig vergessen. Besser wäre es schon gewesen, er hätte Séverine auf das Interview vorbereitet. Sie konnte manchmal etwas zickig sein, besonders wenn es nicht nach Plan lief. Und wann tat es das schon in der Forschung mit Tieren. Doch jetzt war es zu spät. Kurz zwinkerte er seiner Mitarbeiterin zu.
   »Ich erklär dir das später. Wir gehen schon mal in mein Büro. Du kommst dann nach, ja?«
   Séverine nickte nur, gab Susi einen letzten Klaps auf den  Rücken und machte sich auf in Richtung Umkleide. Erst einmal raus aus dem Neoprenanzug. Kurz überlegte sie, was sie anziehen sollte. Dann klaubte sie ein zerknittertes T-Shirt und eine alte Jogginghose aus den Tiefen ihres Spinds. Als sie sich einige Minuten später Marcs Büro im Obergeschoss des Institutsgebäudes näherte, hörte sie schon auf der Treppe seine sonore Stimme. Die Tür stand weit offen. Er schloss sie nie, wenn er sich allein mit weiblichen Gästen oder Mitarbeiterinnen dort aufhielt.
   »Also die Shannon-Entropie, Susanne«, begann der trotz seiner achtundvierzig Jahre immer noch jugendlich wirkende Institutsleiter seine Erläuterung. »Etwas vereinfacht ausgedrückt beschreiben wir damit die Komplexität einer Sprache. Es kann sich dabei um Worte handeln, Piktogramme oder auch um Pfeiflaute von Delfinen und Vögeln. Am Becken unten sollte Susi über einen Touchscreen verschieden Symbole miteinander verknüpfen. Zur Motivation bekommt sie für eine korrekte Reihenfolge immer einen kleinen Fisch. Susi kann aus bis zu fünf Symbolen einfache Sätze bilden. Das hört sich nicht nach viel an, aber wir Menschen besitzen auch nur eine Shannon-Entropie von 8. Und wir können nicht ausschließen, dass die Sprache der Delfine ähnlich komplex ist wie die unsere.

   Diese Piktogramme sind nur ein sehr grobes Hilfsmittel für die Verständigung. Ein Delfinhirn ist auf ganz andere sensorische Inputs geeicht als wir Menschen. Sie nehmen ihre natürliche Umgebung überwiegend über Schallsensorik wahr. Dazu stoßen sie in regelmäßigen Abständen Klicklaute aus. Es handelt sich dabei aber nicht um eine Sprache, sondern nur um die Schallquelle für ihr Echolot. Sie sehen ihre Umwelt über die zurückgestreuten Schallwellen.«
   Als Séverine den Raum betrat, verstummte das Gespräch. Susanne Bronski erhob sich und überreichte ihr eine Visitenkarte. Marc warf seiner Mitarbeiterin einen missbilligenden Blick zu, beließ es aber dabei. 
   »Sie sind freie Journalistin? In welcher Zeitung soll denn das Interview erscheinen?« Séverine war einen Kopf größer als die zierliche Journalistin und schaute mit arrogant angehobenen Mundwinkeln auf sie herab.«
   »Zunächst vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für mich nehmen. Normalerweise suche ich mir aktuelle Themen selbst aus und biete sie allen größeren Publikationen und Nachrichtenmagazinen an. Diesmal habe ich aber einen festen Auftraggeber. Es handelt sich um das Fachmagazin Inside Technology, auch unter dem Kürzel IT bekannt. Am besten setzen wir uns wieder. Ich möchte dann gleich zu meiner ersten Frage kommen. Was hat Sie motiviert, in die Delfinforschung einzusteigen?«
   Séverine zögerte kurz, dann antwortete sie offen. »Ich habe mich schon immer für Astronomie und die Frage nach außerirdischem Leben interessiert.«
   Erstaunt blickte die Bronski zu ihrer Interviewpartnerin. »Sie verwirren mich. Hier geht es doch um Biologie, oder ist mir da etwas entgangen?«
   »Nein, aber ich bin zu dem Schluss gekommen, wir sollten uns zunächst einmal an dem Naheliegenden versuchen, der Kommunikation mit anderen intelligenten Arten auf unserem Planeten. Die SETI-Suche nach Außerirdischen hat bisher keinerlei Erfolge gezeigt. Ich denke, wir wissen einfach nicht, auf was wir bei der Kommunikation mit anderen intelligenten Spezies achten müssen.«
   »Das ist ein Argument. Nochmal zurück zur Shannon-Entropie. Ihr Chef erwähnte, dass Susi bis zu fünf Symbole im Rahmen einer Syntax benutzt, also Sätze aus fünf Worten bilden kann. Meines Wissens sind derartige Studien schon vor mehreren Jahren publiziert worden. Und niemand hat es je geschafft, einem Tümmler logische Konstrukte mit mehr als fünf Symbolen zu entlocken.«
   Marc zuckte bei den Worten der Journalistin innerlich zusammen. Das war genau der Punkt, an dem eine Verlängerung des Projekts scheitern konnte. Schnell warf er ein:

   »Das ist korrekt. Wir denken aber, es liegt am ungewohnten Medium. Wir verfolgen einen zweiten Weg, um die Komplexität der Delfinsprache zu erfassen, um den Tieren besser gerecht zu werden. Ein Beispiel: Versuchen wir, die Shannon-Entropie für einen Roman zu bestimmen, so werden wir nie über den fünften oder sechsten Grad hinauskommen. Das liegt einfach daran, dass wir viel mehr Datenmaterial benötigen, um die volle Komplexität unserer Sprache zu erfassen. Beispielsweise ergibt sich für uns Menschen der höchste Grad 8 erst bei Auswertung von signifikanten Teilen des Internets oder dem Inhalt von Bibliotheken. Und so verhält es sich auch mit der aus Pfiffen bestehenden Delfinsprache.
   Wenn wir hier bei uns im Becken nur Susis Laute auswerten, werden wir nie auf den vollen Grad der Shannon-Entropie ihrer Art kommen. Das wäre auch nicht anders, würden wir einen ihrer Zeitungsartikel nehmen. Wir müssen nach draußen aufs Meer und dort über einen längeren Zeitraum Delfine oder Wale beobachten und ihre Kommunikation aufzeichnen. Das wird die zweite Stufe von Severins Forschungsprojekt sein.«

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