4. Leseprobe



Juni 2017 - Science Museum Seoul

Martin Bartel hatte gerade seinen Begleiter aus den Augen verloren, als sein Blick an einer imponierenden Konstruktion hängenblieb. Was dort im ersten Stock des Seouler Science Museums als Nachbau in Originalgröße unter der hohen Decke schwebte, sah aus wie eines der ersten Motorflugzeuge. Allerdings fehlte der Antrieb. Seine Neugierde wuchs, als er die Informationstafel mit der Beschreibung musterte. Unter einem längeren koreanischen Text fanden sich auch zwei erstaunliche Sätze in Englisch:



Flugmaschine, entwickelt und gebaut von Jeong Pyeongju im Jahr 1590. Ein in der Neuzeit durchgeführter Versuch hat die Flugfähigkeit des Designs bestätigt

Martin fühlte, wie er trotz der Wärme in den Museumsräumen eine Gänsehaut bekam. Wenn die Information auf der Tafel vor ihm korrekt war, hatten die Koreaner während der frühen Joseon Dynastie schon über das Wissen verfügt, um bemannte Flugzeuge zu bauen. Etwas weiter im hinteren Teil der Halle, über Modellen von Raketenwaffen aus dem fünfzehnten Jahrhundert, hing ein Deltagleiter. Wie beim ersten Fluggerät waren Grundgerüst und Fahrgestell aus Bambus gefertigt und die Tragfläche mit dünnem, weißen Leinen bespannt. Der Gleiter wirkte aber eleganter und glich vom Konzept her modernen Drachenfliegern.
Eine Erläuterung zu diesem Ausstellungsstück war nirgends zu finden. So machte Martin sich auf die Suche nach seinem Begleiter. Die eigenen Koreanischkenntnisse würden im kaum helfen, dem Aufsichtspersonal weitergehende Informationen zu entlocken. Nachdem er eine Weile durch die kulturgeschichtliche Abteilung des Museums geschlendert war, stieß er auf weitere, kunstvoll in Metall gearbeitete Ausstellungsstücke, deren Zweck sich ihm nicht sofort erschloss. Den knappen englischen Beschreibungen nach, dienten sie der Beobachtung des Sternenhimmels.

Da sein Freund sich nirgends blicken ließ, ging er kurzentschlossen die nächste Treppe zum Café im Erdgeschoss hinunter. Und richtig, da saß Kevin vor seinem Lieblingsgetränk, einem großen Becher Milchkaffee mit viel Schaum. Martin hatte sich angesichts der erstaunlich stabilen Konsistenz schon öfters gefragt, welche Stabilisatoren hier am Werke waren. Diese Überlegungen drängten sich aber sofort in den Hintergrund, als er bemerkte, dass Kevin nicht allein an seinem Kaffee schlürfte. Aus dem Becher ragten zwei Strohhalme. Einer endete zwischen in Rosa bemalten Lippen. Martin holte sich schnell einen Café Americano und setzte sich dann einfach auf den freien Platz neben dem Mädchen. Bevor er noch selbst das plötzliche Verschwinden seines Mitstudenten ansprechen konnte, beteuerte dieser in seinem fast akzentfreien Deutsch:
Ich habe Sujin vorhin zufällig getroffen. Sie brauchte dringend einen Kaffee. Wegen ihres niedrigen Blutdrucks“, schob er noch schnell nachMartin war Kevins Interesse an der Studentin neben ihm schon früher aufgefallen. Darum wies er ihn nicht auf neuere Erkenntnisse hin, die keine Bestätigung des Zusammenhangs zwischen Blutdruck und Kaffeekonsum belegen konnten.
Alle Drei studierten Wissenschaftsgeschichte an der renommierten Seoul University. Diese führte schon seit drei Jahrzehnten das Ranking der koreanischen Hochschulen an. Martin war nach einem Masterstudium der Physik, mit Unterstützung durch ein Stipendium des Deutschen Akademischen Auslandsamts, vor einem Jahr nach Seoul gekommen. Nachdem er zunächst für sechs Monate einen Sprachkurs in Koreanisch belegt hatte, hörte er nun verschiedene Vorlesungen über koreanische Geschichte. Zum Glück gab es eine kleine Auswahl an Dozenten, die auch Veranstaltungen in Englisch anboten. Den Versuch, Vorlesungen in koreanischer Sprache zu besuchen, hatte er schnell wieder abgebrochen. Die Sprachkenntnisse nach sechs Monaten Training reichten nur für oberflächliche Gespräche. Bei komplizierten Sachverhalten an der Uni verließ er sich doch lieber auf sein Englisch. Außerhalb der Universität waren koreanische Grundkenntnisse allerdings hilfreich. Schon am Taxistand oder im Bus führte der Versuch einer Unterhaltung auf Englisch bestenfalls zu einem freundlichen Grinsen, aber in den meisten Fällen nicht zum gewünschten Ziel. Auch waren die reichlich vorhandenen öffentlichen Toiletten nicht überall mit Piktogrammen versehen. Kennengelernt hatten sich Martin und Kevin schon in Göttingen. Dort hatte der Koreaner, als Vorbereitung zu einem Geschichtsstudium, seine Deutschkenntnisse perfektioniert.

Kevin hatte schon bemerkt, dass Martin aufgeregt war. Normalerweise war der Deutsche eher ruhig und nachdenklich. Jetzt aber rutschte er unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Dann brach es aus ihm heraus: „Ihr glaubt nicht, was ich gerade entdeckt habe: Zwei richtige Flugzeuge. Angeblich sind die schon dreihundert Jahre vor Lilienthal geflogen.“Ja, und kurz danach waren unsere Vorfahren auf dem Mond“, erwiderte Kevin.
„Nein, im Ernst. Kommt mit und ich zeige Euch die Fluggeräte“, beteuerte Martin.

Sujin hatte sich bisher nicht an der Unterhaltung beteiligt. Ihre Deutschkenntnisse beschränkten sich auf wenige Überbleibsel aus einem zweijährigen Highschoolkurs. Den letzten Satz von Martin hatte sie aber verstanden und ihre Augen weiteten sich vor Neugier.
„Ich finde, wir sollten uns die Sache gleich mal ansehen“, gab sie ihren Senf auf Englisch dazu. „Nur im Café rumzuhängen ist doch langweilig.“
Bei dieser Bemerkung wurde Kevin rot im Gesicht, tat aber so, als habe er nichts gehört. Nachdem er die letzten Schaumreste geräuschvoll aus seinem Becher geschlürft hatte, machten sich die Drei auf ins Obergeschoss. Bei den 1:1 Nachbildungen der geheimnisvollen Flugapparate angekommen, hielten sie Ausschau nach dem Aufsichtspersonal. Mit einem breiten Lächeln ging Sujin auf einen der jüngeren Museumsangestellten zu und fragte, wo sie nähere Informationen zu den technischen Ausstellungsstücken bekommen könnten. Der Mann verwies jedoch nur gelangweilt auf die Tafeln im Raum, weiterführende Informationen müssten beim Leiter der kulturgeschichtlichen Abteilung schriftlich angefragt werden. Es war offensichtlich, dass er sich beim Surfen mit seinem Smartphone gestört fühlte.
So leicht ließ Sujin sich aber nicht abwimmeln. Wieder im Erdgeschoss angekommen, griff sie zu einem der Haustelefone und verlangte mit energischer Stimme die Verwaltung der kulturgeschichtlichen Abteilung. Sie hatte Glück. Die Sekretärin meinte, ein Dr. Kim würde sich mit Ihnen gleich in der Eingangshalle des Museums treffen.
 

Der Mann, der kurz darauf mit suchendem Blick aus der Tür des Bürotraktes trat, machte nicht den Eindruck eines Verwaltungsangestellten. Er mochte Anfang Vierzig sein und sah aus, als sei er gerade dem Werbespot einer Bekleidungsfirma für Trekkingartikel entstiegen. Zu grell orangen Wanderschuhen trug er eine schwarze, enganliegende Hose aus elastischem Material und ein farblich zu den Schuhen passendes T-Shirt. Die Haare waren rotblond gefärbt. Zielstrebig kam er auf die Drei zu, die zunächst sein Namensschild am T-Shirt musterten. Nach kurzer Vorstellung lud er die Studenten zu Kaffee und Keksen in sein Büro ein.
Dr. Kim hatte eine Zeit lang in den USA gelebt und sprach ein ganz passables Englisch. Nachdem er den Kaffee eingeschenkt hatte, berichtete Martin über seine Entdeckung:
„Uns interessiert natürlich, ob die Datierung auf dem Hinweisschild korrekt ist und ob es weiterführende Informationen zu den Fluggeräten gibt“, schloss er seine Ausführungen.
Bei der Andeutung einer eventuell falschen Jahreszahl zuckte eines der Augenlider ihres Gastgebers leicht und die Mundwinkel bogen sich nach unten. 
Er fing sich aber schnell wieder und erklärte:
„Ich arbeitete seit etwa einem Jahr im Museum und organisiere meist Führungen für Schulklassen. Ihr seit aber die Ersten, die mich auf diese Flugmaschinen ansprechen. Das ist eigentlich erstaunlich, wirft das Alter der Originalfundstücke doch die ganze westliche Technikgeschichte über den Haufen. Auch ich habe die Altersangabe zunächst angezweifelt, nachdem mir die Nachbauten an einem meiner ersten Arbeitstage im Museum aufgefallen sind. Nach Gesprächen mit einem Historiker unseres Hauses und pensionierten Archäologen des Kulturministeriums bin ich aber von der Richtigkeit der Zuordnung überzeugt.“
Nach einem tiefen Schluck Kaffee fuhr Dr. Kim mit seinen Erläuterung fort: „Gefunden wurden die Vorbilder der Nachbauten bei Renovierungsarbeiten im Keller eines Nebengebäudes des Kyongbok Palastes, nahe dem Zentrum von Seoul. Der Palast diente während der Joseon Dynastie als Regierungssitz mehrerer Herrscher, unter anderem auch dem berühmten König Sejong, der mit der Entwicklung des koreanischen Alphabets Hangul in der ersten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts in Verbindung gebracht wird. Die Überreste der Originalgeräte sind in teilweise sehr schlechtem Zustand aufgefunden worden. Insbesondere die Bespannung der Tragflächen hatte sich fast vollständig zersetzt und auch viele der Beschlagteile aus Weichholz waren dem Zahn der Zeit zum Opfer gefallen. Zusammen mit den Resten der Fluggeräte fanden die hinzugezogenen Archäologen auch mehrere besser erhaltene Instrumente aus Metall zur Sternenbeobachtung. Die in eine dünne Metallplatte eingestochene Sternkonstellation an einem der Instrumente zeigt den Stand der dargestellten Sterne zur Regierungszeit von König Sejong. Dies haben Vermessungen der Platte mit einem Laser ergeben. Das Zurückdrehen der Himmelsuhr bis auf den Stand der metallenen Sternenkarte kann heute jeder an seinem PC mit kostenloser Software durchführen. In den siebziger Jahren jedoch, als die Artefakte gefunden wurden, war dafür noch erhebliche manuelle Rechenarbeit nötig gewesen.“
Sujin ging die Schilderung offensichtlich zu langsam. Sie hatte begonnen, mit zwei Fingern leise auf den Tisch zu trommeln und warf nun ein:
„Sie spannen uns ja ganz schön auf die Folter. Wie alt sind die Fundstücke denn nun? Da ist doch sicher eine Altersbestimmung mit der üblichen Radiokarbonmethode gemacht worden.“ Bitte noch etwas Geduld“, kicherte Dr. Kim. „Das entsprechende Protokoll der Jahrestagung der Archäologischen Gesellschaft von 1973, dem Jahr des Fundes, ist im Archiv des Kulturministeriums erhalten geblieben.“ Bei den letzten Worten hatte er sich erhoben und förderte nach längerer Suche einen Stapel Kopien aus seinem überquellenden Aktenschrank hervor. Mit sichtlicher Begeisterung begann er, im Raum umher schreitend, vorzulesen.




November 1973 - Archäologische Jahrestagung, Seoul

Bitte entschuldigen Sie, dass mein Team und ich die Ergebnisse unserer Untersuchungen bezüglich der Fundstücke aus dem Kyongbok Palast erst so spät vorlegen. Aber wenn sie die Einzelheiten hören, werden sie verstehen, dass wir unsere Ergebnisse verifizieren mussten“, begann der Chefingenieur aus Daejeon seinen Vortrag.
Er hatte ein mulmiges Gefühl bei der Sache. Schon des öfteren waren er und seine
Fachkollegen mit den Archäologen bei der Interpretation von Funden aneinander geraten. Die Damen und Herren der archäologischen Fakultät liebten es gar nicht, wenn Fachfremde ihre Denkgebäude mit kreativen Auslegungen durcheinander brachten. Und heute würde er einen besonders delikaten Fall vortragen. Während er das Publikum beäugte, kam die Erinnerung an sein Gespräch mit einem Beamten des Kulturministeriums wieder zurück. Dieser hatte ihn gebeten, sich einige Fundstücke anzuschauen und bei der Interpretation zu helfen. So war er aus dem 150 Kilometer entfernten Daejeon in die Hauptstadt gereist.
Beim ersten Anblick des Materials
hatte ihn zunächst das Gefühl beschlichen, die Archäologen wollten sich einen Scherz auf seine Kosten erlauben. Vor seinen Augen erschienen wieder die angefaulten Bretter, Bambusstangen und Rollen verschimmelten Stoffs. Trotzdem hatte er sich sorgfältig Zeichnungen aller Stücke gemacht und die Originale, so gut es ihr Zustand erlaubte, auch vermessen. Die Ansammlung erinnerte ihn an etwas, soviel Mühe er sich aber auch gab, die Erinnerung wollte nicht zurückkehren. Beim Abschied wurde ihm noch ein Stück Bambus mit der Bitte um Altersdatierung überlassen. Zurück im Büro war ihm plötzlich aufgegangen, warum ihm beim Anblick des archäologischen Materials ein Deja-vue gekommen war. Letzten Sommer hatte er zusammen mit seinem Sohn ein Modellflugzeug gebaut. Die skizzierten Fundstücke müssten sich zu etwas Ähnlichem zusammenfügen lassen.
Ich will es kurz machen“, fuhr er in seiner Rede fort. „Wir sind der übereinstimmenden Meinung, dass wir es mit den Überresten zweier altertümlicher Flugmaschinen zu tun haben. Die Techniker meines Instituts haben den größeren der beiden Flieger im Maßstab 1:25 nachgebaut und im Windkanal dessen Flugeigenschaften untersucht. Wir konnten das Flügelprofil anhand einer ebenfalls gefundenen Hartholzschablone, auf der merkwürdigerweise ein Handumriss mit nur vier Fingergliedmaßen eingeritzt war, exakt rekonstruieren. Dies war für unsere Windkanaltests von ausschlaggebender Bedeutung. Das Flügelprofil bestimmt wesentlich die Flugeigenschaften. Was wir da vorgefunden haben, ist in höchstem Maße erstaunlich. Der Fund gleicht Hochauftriebsprofilen, welche für langsam fliegende Sportflugzeuge auch heutzutage verwendet werden. Trotzdem sind meinem Team die ersten Flugversuche im Windkanal misslungen.“
Hatte bisher andächtiges Schweigen im Saal geherrscht, erhob sich nun hämisches Gelächter von dem überwiegend aus Archäologen bestehenden Auditorium. Einer der Kritiker rief sogar lautstark:
„Was soll dieser Unsinn. Es handelt sich hier um eine archäologische Tagung und keine Spielwiese. Ihr Techniker verschwendet wertvolle Steuergelder, die wir besser nutzen könnten.“
Mit beschwörend erhobenen Händen verschaffte sich der Vortragende wieder Gehör:
„Ihr freut Euch zu früh“, zischte er in Richtung des Störenfrieds. „Wir haben natürlich weitergemacht und den Versuchsaufbau ein wenig optimiert.
Die Misserfolge der ersten Tests waren durch einen falschen Schwerpunkt des Modells ausgelöst worden. Bildlich gesprochen zeigten die erhobenen Kraftmessungen, dass das Modell immer in Flugrichtung abzukippen drohte. Es war einfach vorne zu schwer. Die Haupttraglast, vernünftigerweise hatten meine Mitarbeiter angenommen, es handle sich um ein bis zwei Personen, musste weiter nach hinten in Richtung Schwanz verlagert werden. Die Position von zwei primitiven Sitzen war aber eindeutig durch die Konstruktion vorgegeben. Hinter den Sitzen gab es beim Original eine Hartholzplatte, die mit mehreren Bohrungen versehen war. Nachdem wir an der entsprechenden Stelle bei dem Windkanalmodell ein Zusatzgewicht angebracht hatten, welches bei der Originalmaschine etwa dem Gewicht von 100kg entsprochen hätte, zeigte das Fluggerät verblüffend stabile Eigenschaften. Auch nach Störungen durch simulierte Windstöße kehrte die Konstruktion schnell in ihre Ausgangslage zurück. Nach eingehenden Diskussionen sind wir zu dem Schluss gekommen, dass an der fraglichen Stelle nur die Anbringung eines maschinellen Antriebssystems Sinn macht“, beendete der Chefingenieur seine Erläuterungen.
Zunächst gab es keine Reaktion. Als der Aerodynamiker dann jedoch höhnisch hinzufügte:
Übrigens, das Beste habe ich mir bis zum Schluss aufgehoben. Die Überbleibsel der Originalmaschinen sind laut zweimal wiederholter Radiokarbondatierung vierhundert bis fünfhundert Jahre alt“, brach im Podium ein wüster Tumult aus, wie man ihn sonst nur von emotional geladenen politischen Demonstrationen oder Debatten im koreanischen Parlament her kannte.
Die Tagung endete für mehrere der Beteiligten im nahe gelegenen Universitätskrankenhaus. Die Verletzungen umfa
ssten ein breites Spektrum von Platzwunden und Prellungen, bei einem der Beteiligten konnte der behandelnde Arzt sich gar des Eindrucks von Bisswunden am Oberarm nicht erwehren.



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